Der Brexit und die Europäische Union

Bei einem Referendum des Vereinigten Königreichs am 23. Juni 2016 stimmten 51,89 % der Wähler für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union. Die britische Premierministerin Theresa May leitete danach den Austrittsprozess gemäß Artikel 50 des Vertrags über die Europäische Union am 29. März 2017 durch schriftliche Mitteilung an den Europäischen Rat rechtlich wirksam in die Wege. Damit ist nach der vertraglich vorgesehenen zweijährigen Verhandlungsperiode mit dem Austritt für März 2019 zu rechnen. Nach Angaben der britischen Regierung soll der Austritt am 29. März 2019 um 23 Uhr britischer Zeit rechtskräftig werden.

Mit einem Brexit verliert die EU ihre zweitgrößte Volkswirtschaft, das Land mit der drittgrößten Bevölkerung und die Finanzhauptstadt der Welt. Mit dem Brexit entfällt der gegenwärtig zweitgrößte Nettozahler zur Finanzierung des Haushalts der Europäischen Union. So führt der Austritt Großbritanniens zu einer Mehrbelastung der verbleibenden EU-Nettozahler. EU-Haushaltskommisar Günther Oettinger erklärt, dass durch den Brexit jährlich zwischen 12 und 13 Milliarden Euro in der EU-Kasse fehlen werden. Dass Deutschland und andere Nettozahler einen großen Teil dieser Summen ausgleichen müssen, ist ausgemacht. Außerdem entfällt das Vereinigte Königreich als wichtiger Anteilseigner der Europäischen Investitionsbank (EIB), in der nur EU-Mitgliedsstaaten vertreten sind. Der Anteil von Großbritannien an der EIB beträgt 16 Prozent oder 3,4 Milliarden Euro.

Nach dem Vertrag von Lissabon (2009) sind bei Beschlussfassungen mit qualifizierter Mehrheit mindestens vier Mitglieder des Europäischen Rates zur Bildung einer Sperrminorität erforderlich. Diese Regelung wurde getroffen, um die Vorherrschaft der drei bevölkerungsreichsten Staaten, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, zu verhindern.Nach einem Brexit der traditionell wirtschaftsliberalen Briten verlieren Deutschland und die „nordeuropäischen Gleichgesinnten“ ,Niederländer, Balten und Skandinavier, diese Sperrminorität und können fortan von den anderen EU-Staaten in Fragen der EU-Haushaltsdisziplin oder der Einrichtung einer Bankenunion mit EU-weiter Einlagensicherung überstimmt werden.

Mit einem Brexit verliert die EU das neben Frankreich einzige weitere Mitglied, das Atommacht und ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ist.

Besonders betroffen vom Wegfall des Nettozahlers Großbritannien sind vier Nettozahler, die seit 2002 einen Beitragsrabatt analog zum „Britenrabatt“ genießen: Deutschland, Schweden, die Niederlande und Österreich. Die Nettozahler sind verhandlungstechnisch im Nachteil: Kommt es innerhalb der verbleibenden EU-27 zu keiner Einigung, den Haushalt zu verkleinern, dann wird der Haushalt automatisch unverändert fortgeschrieben. So müsste Österreich fortan 400 Millionen Euro zusätzlich pro Jahr einzahlen.

Britannien ist nach den USA und Frankreich der drittwichtigste Exportmarkt für deutsche Produkte. Insgesamt exportiert Deutschland Waren und Dienstleistungen im Wert von jährlich etwa 120 Milliarden Euro nach Großbritannien, was etwa acht Prozent des deutschen Exports entspricht, wobei Deutschland gegenüber Großbritannien einen Handelsüberschuss von 36,3 Milliarden Euro (2014) erzielt.

Der emeritierte Leiter des Ifo-Instituts, Professor Hans-Werner Sinn, hat den Brexit als „verheerend“ für Deutschland bezeichnet. Professor Sinn empfiehlt, von Strafaktionen gegen Großbritannien, wie sie unter dem Stichwort Rosinenpickerei laufen, abzusehen. Er fordert stattdessen eine Neuverhandlungen der EU-Verträge, solange Großbritannien noch EU-Mitglied ist. „Wenn Großbritannien erst einmal draußen sei, habe Deutschland keine Chance mehr, eine langfristig tragfähige Struktur der Entscheidungsregeln der EU zu erreichen“.

Europäischer Rat, Europäische Kommission und Europäisches Parlament mit dem Parlamentspräsidenten Martin Schulz hätten sich viel stärker dafür einsetzen müssen, Großbritannien in der EU zu halten. Innerhalb der verbleibenden EU-27 könnte durch den Austritt Großbritanniens ein Dominoeffekt entstehen. Länder, in denen Europakritiker auf dem Vormarsch sind, könnten sich dem britischen Beispiel anschließen. Einmal außerhalb der EU, wird Großbritannien andere EU-Staaten zur Nachahmung animieren. An Europas Rändern tut sich damit eine Flanke auf, die den Zusammenhalt der Union weiter zu destabilisieren droht.

Aus globaler Perspektive wird man noch weniger an eine Zukunft der EU glauben, wenn ein Land des Kalibers des Vereinigten Königreichs sich zurückzieht. Viele Regierungen um den Globus herum werden sich fragen: Was kann man von dieser EU in Zukunft überhaupt noch erwarten? Ist sie nicht längst in Auflösung begriffen? Somit ist die “britische Frage” zu einer Schicksalsfrage für die Zukunft der EU insgesamt geworden.